Ravel: Das Soloklavierwerk

2002-10-17 / Rondo / Matthias Kornemann

Es gibt nicht allzu viele Pianisten der Gegenwart, die ihren eigenen Stil haben, ihren unverwechselbaren Klang. Einen Gilels oder Casadesus wird der erfahrene Hörer blind erkennen. Wen würde er heute benennen können? Hier aber erscheint eine Ravel-Werkschau, deren klangliches und interpretatorisches Profil so scharf geschnitten ist, wie man es nur noch ganz selten erlebt.
In einer Nachbemerkung ihres sehr unterhaltsamen, klugen Einleitungsessays verrät uns die Kanadierin Angela Hewitt, dass sie ihr Lehrer in die Ahnengalerie französischer Ravel-Tradition geführt habe. Und dieser Jean-Paul Sevilla, 1934 geboren, bekam schon 1952 seinen ersten Preis auf dem Pariser Conservatoire in Marcel Ciampis Klasse. Doch genug der Namen. Man hört es. Der französische Stil der alten Zeit scheint aus dem Grabe zu erstehen. Hewitt ist eine Widergängerin jener eisenfingrigen französischen Damen, die einen radikal anti-impressionistischen Ravel tradierten, der keine Farbfläche, keine unscharfe Kontur und Nuancenmalerei kannte.
So hören wir bei Hewitt einen silbrigen, gehärteten Klavierklang, so transparent, dass nicht ein winziges 32tel im Pedal ertrinkt. “Jeux d’eau” sind ein kühles Rinnen und Perlen eines Wassers an der Grenze des Gefrierens. Eine atemberaubend präzise Hommage an ausgestorbene feinmechanische Eleganz. Doch Angela Hewitt will mehr als einen Retrostil begründen.
Ihre “Pavane pour une Infante” ist vermutlich eine der langsamsten Fassungen der Schallplattengeschichte, und zugleich eine der dürrsten, rührend steifbeinigsten. Auch den “Valses nobles et sentimentales” entzieht sie in einer die exquisiten Harmonien geradezu unheimlich vergrößernden Langsamkeit allen motorischen Elan. Wiederum liegt der Schlüssel in Hewitts Text. Offenbar hat sie, wie ich auch, an einem Wintertag alleine in Ravels wunderlichem Puppenhäuschen in Montfort vor all den traurigen automatischen Wunderlichkeiten gestanden, die er so liebte. In der Stille schienen sich die Spieluhren immer noch zu drehen.
Und plötzlich begreifen wir: Diese Walzer sind kleine Leichenzüge für mechanisches Spielzeug, Tänze leblos-anmutiger Figurinen, deren Federn kaum mehr Spannung haben. Noch schlagen die Töne an, aber die Bewegung friert immer mehr ein. Und doch bleiben die Themenfragmente, mit denen die Walzerkette im Epilog ausklingt, kantabel. Es wirkt beklemmend, wie Hewitt alles Leben austreibt, um Akkorde zu Kristallen zu schleifen. In unheimlich statischen, zugleich ausdruckslosen und in ihrer einsamen Monotonie ergreifenden Fassungen der “Oiseaux tristes” aus den “Miroirs” und des “Galgens” aus dem “Gaspard” gipfelt diese Kunst.
Man ist gar nicht überrascht, dass es vielleicht ein Idiom gibt bei Ravel, das ihr nicht recht liegt: der gewalttätige, grimassenschneidende Kobold “Scarbo” oder jener Narr der “Alborada” mit seiner Karikatur eines Ständchens. Sie sind keine Automaten, sondern Akkordhiebe austeilende, vitale Klangfiguren. Hewitt hat da Mühe, geistig wie manuell, so klar und innerlich ungerührt zu bleiben, wie es ihr ein ästhetisches Programm vorschreibt, das ihr ein Jahrhundertwende-Dandy eingegeben haben könnte. Das Künstliche zu kultivieren, eine mechanisch gezirkelte Welt zu entwerfen, deren Nachklänge das rohe Leben draußen nicht stören kann. Eindringlicher hat diese Welt kaum ein Pianist beschworen.