2004-12-10 / Bayerische Rundfunk / Attila Csampai
Wenn eine ausgesprochene Bach-Spezialistin wie die Kanadierin Angela Hewitt nach zehn zum Teil hymnisch besprochenen Bach-CDs plötzlich zu Chopin und seinen romantisch-innerlichen Nocturnes wechselt, dann ist das schon eine faustdicke Überraschung, mit der kaum jemand rechnen durfte: Und wenn die auch schreibbegabte Künstlerin dann im Booklet Chopin zu den “Klassikern” rechnet, seine Beziehung zu Bach unterstreicht und die lahmen Tempi bisheriger Nocturnes-Interpreten tadelt, dann erwartet man sich irgendetwas Radikales oder zumindest Ungewöhnliches und wird – positiv enttäuscht. Denn Angela Hewitt ist eine viel zu intelligente und skrupulöse Musikerin, um den romantisch-erzählerischen Gestus, die atmosphärische Dichte, die ausgeprägte Kantabilität dieser wunderbar milden Nachtmusiken nicht doch als wesentlich in ihr Spiel einfließen zu lassen.
Was ihr stets atmendes, Bögen ziehendes Chopin-Spiel von vielen anderen Propheten der bröckelnden Langsamkeit unterscheidet, ist die emotionale Frische ihres Zugriffs, ihre kontrollierte Leidenschaft, und ein wirklich schönes Gefühl für gepflegte, rhetorisch überzeugende, natürlich fließende Rubati, die den überraschend weiten Gefühlshorizont dieser Genre-Szenen endlich einmal vom lähmenden Schleier der Melancholie und depressiver Todesnähe befreien.
Attila Csampai, Bayern 4 Klassik